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Die Kunst der Begegnung

23.–26. Juni 2022, tjg. Dresden

Zum ersten Mal in der bald 70-jährigen Geschichte der Dramaturgischen Gesellschaft haben wir uns zwei Jahre lang nicht getroffen. Und unser Gefühl beim Entwickeln dieser Konferenz war, dass es diesmal genau darum gehen muss, wenn wir uns auf Einladung des tjg. theater junge generation in Dresden treffen: Dass wir uns zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder begegnen. Dass es vor allem darauf ankommt, sich auszutauschen – über die vergangenen zwei Jahre, darüber, wo wir stehen, wie es den anderen geht, was sie hinter sich haben, was wir für die Zukunft erwarten und welche Zukunft uns erwartet, was diese Entwicklungen für die Theater bedeuten. Und wie wir (wieder) ins Gespräch miteinander kommen – auch und gerade mit Menschen, die in den letzten zwei Jahren erst mit dem Beruf begonnen haben, im totalen Ausnahmezustand.  So haben wir dieses Mal Formate angesetzt, die genau das tun: Begegnungen stiften. Gespräche initiieren. Raum lassen und Raum schaffen für den Austausch, zu zweit, zu mehreren und in großen Gruppen.

Theater als Begegnungsräume der Stadtgesellschaft

Das „physical distancing” der letzten Jahre hat uns alle betroffen, nicht nur die Theater. Aber als Begegnungsräume der Stadtgesellschaften und Erfahrungsräume der Demokratie sind die Theater während der Pandemie weitgehend ausgefallen. Mit massiven Folgen. Und es ist noch überhaupt nicht klar, was das für die Zukunft der Theater und für ihre Rolle in den jeweiligen Städten bedeutet. Veronica Kaup-Hasler, Kulturstadträtin der Stadt Wien, hat schon im November 2020 darauf hingewiesen, dass es Jahre dauern wird, bis die Theater wieder vor-pandemische Besucher*innenzahlen erreichen werden.

Die Pandemie-Erfahrung der letzten zwei Jahre beeinflusst auch die kulturpolitischen Debatten, die die Dramaturgische Gesellschaft seit Jahren umtreiben, die unsere Konferenzprogramme in Greifswald, Jena, Weimar und Gent bestimmt haben und die für uns nun noch eine ganz neue Dringlichkeit erreichen: Diversität, Allyship, Barrierenabbau, Dekolonialisierung, Zugänglichkeit, Machtmissbrauch, Diskriminierung, Inklusion, Repräsentation - also kurz: Gerechtigkeit, Teilhabe, Agency. Diese Debatten werden seit Beginn der Pandemie noch vehementer, breiter und vielstimmiger geführt.

Die Rolle von Kulturinstitutionen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wird zunehmend breit diskutiert. Auch wenn Theater überfordert wären, einen Zusammenhalt zu gewährleisten, den die politische Öffentlichkeit selbst nicht (mehr?) leisten kann, sind sie doch Erfahrungsräume, in denen das Gemeinsame verhandelt werden kann – und muss. In einer sich in Einzelgruppen auflösenden Gesellschaft werden die Theater als Begegnungsorte für die Stadtöffentlichkeit gebraucht. Was bedeutet das für das Selbstverständnis von Theatern in einer postpandemischen Gesellschaft? Wird hier überhaupt ein „Gemeinsames” verhandelt und wenn ja: von wem?

Wir glauben, dass unsere Aufgabe als Theatermacher*innen das Anstiften, Formatieren und Inszenieren von Begegnungen, das Ermöglichen von Interaktionen, das Verankern von Theatern als Orten des Gemeinsamen und des Austausches eine der großen Aufgaben der Theater in den kommenden Jahren sein wird. Noch viel mehr als bisher, verstärkt durch die Pandemie, werden die Theater sich in den kommenden Jahren von Orten der (Re-)Präsentation hin zu offenen Plattformen wandeln. Jenseits des Guckkastengeschehens werden Interaktionen und die Auflösung der Akteur*in/Zuschauer*in-Dichotomie ins innovative Zentrum der Theater rücken. Denn wir führen diese Debatten mit dem Ziel der Gleich-Berechtigungen, der Augenhöhe, und der Entwicklung von neuen Entscheidungsstrukturen. Was bedeuten diese Veränderungen für die Art, wie wir Begegnungen in Theatern denken und organisieren? Wer begegnet sich, und welche Ausschlüsse werden dabei produziert?

Wir haben zahlreiche Expert*innen für Begegnungen zur Konferenz eingeladen oder in Dresden vorgefunden; und es ist kein Zufall, dass viele innovative Formen und Best-Practice-Beispiele aus dem Bereich „Junges Theater” kommen. Wie keine andere Sparte lebt und produziert das junge Theater mit und für ein Publikum, dessen Zusammensetzung repräsentativ für die Gesellschaft ist, in der wir leben. Deshalb steht es schon lange für innovative Begegnungs- und Gesprächsformate, für Austausch, Partizipation und Interaktion und entwickelt seit Jahren Formate, von denen wir überzeugt sind, dass sie die Zukunft der Theater prägen werden.

Der Young Think Tank, Theaterakademie des tjg.

Wir haben erstmals junge Menschen dazu eingeladen, unsere Tagung mitzugestalten. Kinder und Jugendliche der Theaterakademie werden die Akkreditierung inszenieren (wir empfehlen rechtzeitiges Ankommen) und während der Konferenz eine Dramaturgische Beratungshotline anbieten - hier können sich alle Dramaturg*innen von den wahren Zukunftsexpert*innen coachen lassen. Wir haben außerdem mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen den Young Think Tank der dg gegründet, der im Vorfeld die Programmplanung kommentiert und sich mit unserer Grafikerin zur visuellen Gestaltung ausgetauscht hat, und am Eröffnungstag allen sein Manifest präsentiert sowie zusammen mit der Theaterakademie die Akkreditierung gestaltet und während der Konferenz performative Interventionen vornehmen wird.

Keys: Wer begegnet wem?

Weil wir am tjg.theater junge generation zu Gast sind, verändern wir die übliche Konferenzstruktur: Statt morgens Keynotes zu hören und abends ins Theater zu gehen, wird es diesmal vormittags Theater geben und nachmittags und abends inhaltliche Impulse.

Schon am Donnerstagabend starten wir deshalb mit einem Key-Input. Wir freuen uns sehr, dass der aktuelle Kleist-Förderpreisträger Amir Gudarzi den Eröffnungsimpuls geben wird – denn die Frage, wer wem begegnen kann, wer welche Chancen hat, wahrgenommen zu werden, und wie die Strukturen der Wahrnehmungslenkung sind, stellt sich auf ganz anderen Ebenen als der der persönlichen Begegnung einer spezifischen Berufsgruppe ja noch viel dringlicher.

Statt weiterer Keynotes gestalten wir auch die inhaltlichen Impulse auf dieser Konferenz als Begegnung: „HOW SHALL WE GATHER?” hat drei Ausgaben. Die erste stellt den Bezug zum russischen Krieg gegen die Ukraine her. Seit dem 24. Februar haben zahlreiche Theater Raum und Arbeitsmöglichkeiten für ukrainische Künstler*innen bereitgestellt – und sie werden sehr unterschiedlich genutzt. Welche Rolle übernehmen Theater, welche können und sollten sie übernehmen, können Theater zu „sicheren Räumen” werden oder sollten sie uns aus unserer Komfortzone holen? Wir freuen uns sehr, dass die zukünftige Hausautorin des Schauspiels am Nationaltheater Mannheim, Anastasiia Kosodii und ihre Kollegin Julia Gonchar, gegenwärtig Stipendiatin der Sächsischen Kulturstiftung, mit Sivan Ben Yishai und Mehdi Moradpour im Rahmen unserer Konferenz ins Gespräch gehen werden.

Jule Govrin, María do Mar Castro Varela und Yener Bayramoğlu untersuchen gemeinsam die Kunst, verletzlich zu sein. Denn was braucht es eigentlich, damit wir uns begegnen können? Welche Zugänge müssen gelegt, welche Hürden überwunden, welche Barrieren abgebaut oder: welche Voraussetzungen geschaffen werden? Wie wird aus einer Begegnung ein echtes Miteinander? Wenn wir Verwundbarkeit als Grundbedingung von Leben begreifen, welche Konsequenzen hat das? Und was Inklusion in konkreten künstlerischen Arbeitszusammenhängen bedeuten kann, darüber werden Gabi dan Droste, Jan Kress und Winnie Karnofka aus ihrer künstlerischen Praxis im Theater für Junges Publikum diskutieren.

Wenn die Vermutung stimmt, dass Theater noch stärker als bisher Orte des Austausches und der Begegnung werden müssen, bekommen auch die  Nachgespräche und ihr Verhältnis zur Aufführung eine neue Bedeutung. Daher räumen wir ihnen einen zentralen Ort in der Konferenzstruktur ein. Das tjg. theater junge generation ist das größte Kinder- und Jugendtheater Deutschlands und gestaltet mit der eigenständigen Sparte Theaterakademie zu fast allen Inszenierungen spezielle Vor- und Nachgesprächsformate. Das reicht vom Planspiel zu Instagram-Reels auf unserer Tagung über Nachspielaktionen für 2-jährige bis hin zum „inszenierten Essen” im Nachgang zur frisch mit dem Sächsischen Theaterpreis ausgezeichneten Vorstellung “Tiere essen”. Die Nachgespräche im Anschluss an die Vormittagsvorstellungen sind daher zentrale Angebote des Tagungsprogramms.

Die Gesprächsanstifter*innen der Geheimen Dramaturgischen Gesellschaft bitten im direkten Anschluss zum großen gemeinsamen Mittagessen. Die GDG, die mit der dg nicht verwandt oder verschwägert ist, hatte bereits unmittelbar nach ihrer Gründung unsere Jahreskonferenz 2017 in Hannover begleitet; inzwischen ist sie eine gerade im Kinder- und Jugendbereich stilprägende Gruppe geworden und wir freuen uns, dass sie nun auf unsere Konferenz zurückkehrt. Wir empfehlen ihre Heftreihe zur Gesprächsgestaltung „Anstiften” als Fundgrube und Toolkit für Begegnungsformate!

Kuratierte Begegnungen, Spaziergänge, Panels und tanzende Dramaturg*innen

Weitere Gesprächsanlässe stiften wir mit unterschiedlichen Schwerpunkten: God´s Entertainment werden mit uns vier Tage lang einen Teppich der Bedeutungen und Leerstellen weben – man kann in allen Pausen immer mal vorbeischauen und mitmachen. Brands/Sistig/Steinmair sammeln mit Euch die häufigsten Entschuldigungen und besten Lügen von Dramaturg*innen, unter der Voraussetzung, dass Ihr ein Mindestmaß an Schuldbewusstsein mitbringt. Franziska Seeberg und Iñigo Giner Miranda untersuchen, was Partizipation für das Musiktheater bedeuten kann - und besonders freuen wir uns, dass TALK OHNE SHOW ihren Spaziergang  „Walk with me“, für unsere Konferenz nochmal neu denken. Christine von Brühl zeigt uns ihre Stadt, Daniel Cremer lädt uns dazu ein, echte Nähe zu erleben und dabei unseren Ruf lustvoll zu ruinieren; Alexandra Holtsch und Hubert Wild blasen zum großen Trallalali und untersuchen den unermesslichen Unsinn menschlicher Kommunikation; außerdem laden wir ein zu Podcasttrainings mit Thalia Schoeller.

 

Mit einigen Panels versuchen wir einen Ausblick in die Welt: Karolina Wigura beschäftigt sich mit Fragen der Demokratie und des Protestes in Polen, das Panel „Should I stay or should I go” nimmt Begegnungsperspektiven in Ostdeutschland in den Blick, das ITI stellt die neue Plattform THEATER ÜBERSETZEN vor, ein überaus nützliches Tool, um Theater zugänglicher zu machen.

Produktiv über Macht nachdenken wird das „Frankfurter Forum Junges Theater": Wer Verantwortung hat, kann Dinge ermöglichen und verändern, Spielräume nutzen und andere Menschen empowern. Welche Strategien können wir entwickeln, um Macht produktiv einzusetzen? Was ist Allyship, Empowerment und Solidarität, und was heißt es tatsächlich, Macht auch wieder abzugeben? Um Machtfragen geht es auch in einem großen Panel, das wir zusammen mit der Kulturstiftung des Bundes kuratieren: Welche Macht und Stellung räumt die Gesellschaft den Darstellenden Künsten für junges Publikum ein? Wie verhält sich die Politik dazu? Und wer verschafft diesen Begegnungen Aufmerksamkeit - welche Rolle spielen die Medien? Unter dem Titel „nachwachsen!?“ kommen Kulturschaffende mit Politiker*innen und Journalist*innen zusammen für Diskussionen und anschließende Workshops u.a. mit Brigitte Dethier, Luna Ali, Teresa Darian, Thalia Schoeller, Matin Soofipour Omam, Antigone Akgün, Eva-Maria Magel und Elena Philipp.

Daneben gibt es die klassischen Konferenzformate: Natürlich stellen wir den Text WONDERWOMB, mit dem Amir Gudarzi den Kleist-Förderpreis gewonnen hat, in einem Gespräch mit ihm nochmal vor, und wir freuen uns besonders, dass auch die Vorjahrespreisträgerin (und frisch gekürte Gewinnerin des Heidelberger Stückemarktes) Ivana Sokola bei unserer Konferenz im Rahmen der vom Verband Deutscher Bühnen- und Medienverlage durchgeführten Autor*innen- und Komponist*innenbegegnungen vertreten ist. Außerdem werden Michael Wertmüller, Ketan und Vivan Bhatti und Cosmea Spelleken über Begegnungsaspekte in ihren Arbeiten reden.

Der Kongress tanzt

Und dies ist auch der richtige Zeitpunkt, die dg-AGs stärker ins Zentrum zu rücken: Am Sonntagmorgen vor der Mitgliederversammlung hat jede*r Konferenzteilnehmer*in die Möglichkeit, ohne parallele Veranstaltungen eine der AGs zu besuchen. Oder im Laufe der Konferenz selbst eine Gesprächsrunde zu initiieren. Wir freuen uns in diesem Zusammenhang auch sehr, dass die Regisseur*innen von NETZWERKWISSEN zu Gast sind, ebenso wie Roman Senkl mit der Gruppe digitale.dramaturgie.
Die anschließende Mitgliederversammlung selbst soll neben den notwendigen Formalia ähnlich wie in Gent auch Gelegenheit zu Austausch und Fazit bieten.
Aber vor allem und überhaupt wollen wir endlich wieder mit Euch feiern! Feiern, dass wir uns wieder treffen können! Feiern, dass es uns noch gibt! Feiern, dass Ihr da seid! Das Get-Together beginnt bereits bei der Akkreditierung, die von der Theaterakademie und dem Young Think Tank gestaltet wird. Der Freitag endet mit einer Dance-Karaoke, bei der Olivia Hyunsin Kim uns einlädt, gemeinsam bekannte Tänze aus Musikvideos nachzutanzen. Am Samstag bitten die Verleger*innen unter dem Motto „Gib mir Deinen Senf!” zum Empfang, und die Jahrestagung endet am Sonntag nach der Mitgliederversammlung mit kurzen choreographic actions unter Anleitung der Choreografin Reut Shemesh.

Die dg:starter und die AG Junges Theater sind seit Jahren wichtige Partner und verlässliche Impulsgeber für die dg. Von Christoph Macha ging auch die Initiative für die Einladung nach Dresden aus. Wir haben uns für die Vorbereitung der Konferenz mit ihm und Eva Stöhr als assoziierten Vorstandsmitgliedern verstärkt; ihr Engagement, Netzwerk, Fachwissen und -perspektive war für die Entwicklung der Konferenz zentral - wir danken Euch von ganzem Herzen!

Wir danken dem tjg. theater junge generation für die Einladung und der Intendantin Felicitas Loewe und dem gesamten Team für den intensiven Austausch bei der Entwicklung der Konferenz und die Gestaltung eigener großartiger Formate. Und wir danken sehr herzlich dem Landesverband Sachsen des Deutschen Bühnenvereins, der die Tagung mit einer erheblichen Summe fördert. Wir danken außerdem dem Förderprogramm KULTUR.GEMEINSCHAFTEN, Teil des Förderprogramms NEUSTART KULTUR, das aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und der Kulturstiftung der Länder (KSL) bereitgestellt wurde. Ebenso möchten wir der Landeshauptstadt Dresden für ihre Unterstützung danken, sowie unseren Kooperationspartnern Kulturstiftung des Bundes im Rahmen des Programms Jupiter – Darstellende Künste für junges Publikum, dem Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland, dem Verband Deutscher Bühnen- und Medienverlage und dem Deutschen Zentrum des Internationalen Theaterzentrums (ITI).

So ein kurzer Satz, aber so wahr nach zwei Jahren: Wir freuen uns, Euch zu sehen! Oder, wie die Schweizer*innen so unübertrefflich sagen: Schön kommt Ihr nach Dresden!

Der Vorstand der DG:

Kathrin Bieligk (Stellv. Vorsitzende), Kerstin Grübmeyer, Dorothea Hartmann, Esther Holland-Merten, Jasmin Maghames, Beata Anna Schmutz, Harald Wolff (Vorsitzender)
mit Christoph Macha und Eva Stöhr
und Raffaela Phannavong (Leitung der Geschäftsstelle) und Jana Thiele (Geschäftsführerin)

 

 

programm

Theaterprogramm
Donnerstag, 23.6.2022
15:00–20:00 tjg. theater junge generation/Foyer
Akkreditierung
17:00–18:00 tjg. theater junge generation/Foyer
Akkreditierung

Du hier?

Schüler*innen der Klasse 7/tjg.-Theaterakademie begrüßen die Konferenzteilnehmer*innen

18:00–20:00 Kraftwerk Mitte/Kunsthalle
Abendbuffet

Zur allgemeinen Stärkung

22:00 Kraftwerk Mitte/Kunsthalle
Get Together
09:00–20:00 tjg. theater junge generation/Foyer
Akkreditierung
18:00–20:00 Kunsthalle/Kraftwerk Mitte
Abendbuffet
09:00–18:00 tjg. theater junge generation/Foyer
Akkreditierung
Theaterprogramm
Sonntag, 26.6.2022